Zu
den überragenden Verdiensten Willy Brandts wird man einmal seine drei
Söhne zählen müssen, von denen einer als Schauspieler die Nation
allabendlich mit den Schrecken ungesetzlicher Handlungen versöhnt,
während der andere, als Historiker, die Schrecken der Geschichte, ohne
ihnen ein Jota abzunehmen, als lebbare Mitgift der Menschheit behandelt.
Denn tatsächlich blieb es dieser Generation vorbehalten, die Lebbarbeit
der Geschichte neu zu erproben, insbesondere desjenigen Teils, den ihr
die Vorgänger (und Vor-Vorgänger) hinzugefügt hatten.
Dem Leben im
Schatten der Bombe entsprach in diesem Weltteil symmetrisch das Leben im
Schatten der mühsam geteilten Einsicht in die Realität des absoluten
Grauens. Fälschlicherweise nahm man an, es sei an der Grenze des eigenen
Daseins gestoppt worden, während es doch auf anderen Kontinenten fort-
und koexistierte: eine doppelte Virtualität, die ihre eigenen Virtuosen
hervorbrachte, Bewältigungsathleten im Zeichen der moralischen terreur,
die bei einigen, wie zu erwarten, in physischen Terror umschlug, bei
anderen in eine Art von dauerhaftem Wundstarrkrampf mündete.
Dass man im
geteilten und geschrumpften Land die Nation zum Müllschlucker des
Gewesenen deklarierte, lag wohl am Wege, in einer Welt der gelernten
Lektionen blieb dies die gelernteste und gelehrigste. – Nicht das
So-Sein, sondern das Sohn-(und Tochter-)Sein war über diese Generation
verhängt, der noch immer etwas Blasses, Verwaschenes,
Unfertig-Altbackenes und, ehrlich gesagt, bei aller vorgetragenen
Entschiedenheit Unentschiedenes anhaftet.
Der Sohn des zum
Repräsentanten des ›anderen Deutschland‹, dann seines Landes und
schließlich der sich restituierenden Nation aufgestiegenen Exilanten,
des ersten und bislang einzigen Kanzlers, der nicht ›beliebt‹ war,
sondern geliebt wurde, musste irgendwann wohl oder übel Historiker
werden und die Linie, die der Vater in der Politik zog, ins Gewebe der
Fußnoten und der gelehrten Parenthesen übertragen. Und wohl oder übel
musste es die Nation sein, die ihn dabei beschäftigte: die besudelte,
aber eben auch lebbare, jene geteilte, deren Einheit lange Zeit denkbar,
aber praktisch unmöglich schien, die erneut vereinte, deren
Ruhelosigkeit sich sofort neue Formen der Selbstnegation verordnete, auf
dass sie ihrer Funktion als ideologische Schaltstelle Europas nicht
verlustig gehe.
Wer Peter Brandt für einen Apologeten des Ausgleichs
hält, hat etwas grundlegend missverstanden. Wenn ›Verständigung‹ den
rationalen, ›Ausgleich‹ den (macht-)ökonomischen und ›Versöhnung‹ den
ethisch-religiösen Aspekt der Aufgaben umreißt, die nach Vernichtung und
Aufbau anstanden, dann ist ›Entwahrlosung‹
vielleicht nicht der heikelste, aber subtilste, da unmittelbar auf den
Wandel der Selbstverständigung im jeweiligen Ganzen zielende Teil. Das
ist, alles in allem, ein kollektiver Vorgang, dem vorzugreifen
gefährlich, dem hinterherzutrotten tödlich sein kann. Wie alle
historischen Prozesse braucht auch dieser Symbolfiguren. Voilà – bedient
euch!
(da)