Zur Ökonomie der Illusion


Die Ökonomien der Illusion und des Vergessens sind eins.

Freitag, 18. Dezember 2015

Das Atlasspiel

Die Rede vom Bewusstsein erinnert ein wenig an die eingetrockneten Fliegen vom Vorjahr, die beim Frühjahrsputz unter den Jalousien zum Vorschein kommen, sie ist nicht en vogue, der Herr der Fliegen hat Ausgang und scheint das zu genießen – sei's drum, es kommen andere Zeiten und neue Insektenschwärme, so wie andere Menschen diesen Planeten der Scherben bewohnen werden, unbekümmert um Potenziale und Kontingente. Denn, ehrlich gesagt, es ist Hochmut, naiver, bewusstloser, abschreckend denkfauler Hochmut einer Generation, sich für die Zukunft nichts anderes vorstellen zu können als die Fortschreibung der eigenen Dispositionen und Gegnerschaften, zu denen sich die Albträume ruhig hinzuzählen lassen: jede Generation macht es sich im Albtraum der vorhergehenden bequem und findet insgeheim, jene müsse stolz darauf sein. Ein Irrtum, aber ein lebens-, vielleicht überlebensnotwendiger, den kein überlebendes Ressentiment ausräumen kann.
Schwelgen wir daher im Allgemeinen, solange es geht. Das Allgemeine ist die Generation, auf sich selbst angewendet: Das haben wir gemacht, soweit sind wir gekommen, so stellen wir uns die Zukunft vor. Welch ein Dreischritt. Und gleich hinterher der Katalog: Das darf nicht passieren, das muss verhindert werden, das darf keine Chance bekommen, das haben wir überwunden. Lachen Sie nicht. Das ist kein Trauerspiel. Was ist es dann? Ehrliche, lebensbejahende Überzeugung, von erbitterten Feinden geteilt, die sich der gemeinsamen Situation ebensowenig entziehen können wie der überwältigenden Wirklichkeit ihrer Probleme. Eure Probleme müssten wir haben! Das könnte jede Generation der vorigen über den Zaun des Vergehens und Vergessens zuflüstern. Wir hätten brilliert, wo ihr versagt habt. Und es wäre so einfach gewesen!  Ein Lob auf den Zaun, der Menschen und Zeiten und Kulturen trennt: denn er erlaubt den Verkehr nach unseren Regeln.
Die fortgeschrittenen Länder haben die anderen hinter sich. Was dort geschieht, ist passé, man blickt mit einer Mischung aus Gönnerhaftigkeit und Entsetzen zurück, man löst ihre Probleme im Handumdrehen. Mitunter kippt die Perspektive, plötzlich sind die Zurückgebliebenen hinter den anderen her, und keineswegs nur um aufzuholen – dann steht die Angst auf, die eben noch fest schlummerte, im Vertrauen darauf, dass sie immer mitkommt. Denn wir – die Generation – sind nur, solange wir weiter sind, das Weitersein bildet die wirkliche Grenze, den täglich erneuerten Zaun, der die Baustelle Zukunft vor den Begehrlichkeiten schützt, die sie umlagern, mit fiebrig glänzenden Augen, in denen das Ausgeschlossensein blitzt. Das ist die vielberedete Differenz der Kulturen: anders ist, wer unser Erfolgsrezept noch nicht begriffen hat. Wir leihen ihm unser Ohr, wir hören ihm zu, wir bewundern ihn gern, wir lernen von ihm, was unsere Kultur vergessen oder verdrängt hat, wir beteuern sein Recht auf Teilhabe, wir helfen, wo es geht, wir trauen ihm zu, uns zu beerben, aber im Kern ––
Das klingt so kritisch und ist vielleicht auch so gemeint, nur ändern lässt es sich kaum. Die Kultur der Anerkennung erneuert das Dilemma, aus dem sie hervorgeht, so wie das Leben der Lebenden das Dilemma derer erneuert, die es hinter sich haben. Auch sie waren weiter, auch sie reichten ihre ungelösten Probleme an die Nachfolger weiter, als hätten sie begriffen, wie man sie löst, auch sie wussten, wie man zurückblickt, auch sie träumten vom Potenzial. Fast alle Verwüstungen des Planeten gehen auf Träume zurück, die andere träumten oder gerade nebenan träumen. Des einen Traum ist des anderen Albtraum. Man kann ein Land der Verwüstung preisgeben, indem man es zur Baustelle erklärt, das bereitet keinerlei Schwierigkeit. Dennoch wird gebaut, muss gebaut werden, keine Frage. Oder doch? Planungsfragen sind Überlebensfragen. Wer sich überlebt hat, in welchem Raum, in welcher Zeit ist er unterwegs? Nicht Weisheit ist es, die sich den Nachrückenden mit der Botschaft andient, wir haben versagt, es liegt bei euch, die richtigen Schlüsse zu ziehen und die Dinge in Ordnung zu bringen, eher Perfidie, wie überall, wo eine untragbare Bürde die Schultern wechseln soll: Kommt ihr damit zurecht, aber bildet euch nicht ein, es stünde euch frei, die Maßstäbe neu zu setzen – das hieße ja, wir hätten umsonst gelebt und gehofft. Die Freigelassenen der Zukunft sind die Sklaven der Gegenwart und sie sollen inwendig Sklaven bleiben, jedenfalls nach den Vorstellungen ihrer Noch-Aufseher, die ein ums andere Mal hervorzukitzeln wissen, was an Reflexen in sie eingegangen ist.
Zumindest glauben sie's.

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Kleine Schlange Aufschub


Wer Bewusstsein sagt, will schon manipulieren: keine kleine Aussage, eher eine bewusstseinsöffnende oder -fördernde Maßnahme. An solchen Manipulationen leidet die Öffentlichkeit keinen Mangel, eher erstickt sie an ihnen. Bevor jemand hingeht und ein Fenster öffnet, muss viel geschehen. Die Gelassenheit muss viele kleine Tode sterben, ehe sie, wie der Geist aus der Flasche, in die Gehirne zurückkehrt, nicht triumphal, schon gar nicht triumphierend, eher mit einem Seufzer der Erleichterung, in die sich ein wenig Wehmut mischt, denn auch Spannung ist schön. Der gespannte Mensch, der Mensch, der jederzeit losgehen kann, setzt sein Glück in die Naherwartung, deren Gegenstand sich langsam entfernt, doch diese Strategie, das könnte ihm sein Verstand sagen, schlägt irgendwann gegen ihn aus. Mit der Anzahl der Falten steigt die Zahl der verpassten Gelegenheiten. Irgendwann, statistisch betrachtet, gemahnt sie an den Hockeyschläger, den die alarmistische Klimaforschung so nachhaltig in die Köpfe schreckhafter Zeitgenossen gezeichnet hat – die gerade Bahn, auf der die Hoffnung dahingleitet, als habe man ihr zum Fest der Herzen ein Paar Schlittschuhe geschenkt, wird unversehens zur Steilwand, die zu erklimmen die Kraft fehlt. Und selbst wenn einer sie besäße: in der Vertikalen wird die absurde Geste der Selbstaufrichtung, die bekanntlich den Menschen ausmacht, zur lebensbedrohlichen Farce. Was den Einzelnen zeichnet, das zeichnet auch die Kohorte der Altersgenossen, nicht auf Grund einer vagen Analogie, sondern als Ausdruck des Umstands, dass sie in den meisten Fällen als Ursprung und Sitz der überschießenden, das Leben tragenden und zerstörenden Erwartungen anzusehen ist: mit ihr werden sie geboren, mit ihr gehen sie dahin.
Nichts berührt seltsamer als eine bereits vom Aufschub gezeichnete Generation, die sich fortschreiben möchte, nichts treibt gesellschaftlichen Wandel energischer voran als das überzeugungsgesättigte Festhalten alternder Eliten an Lebensformen und -zielen, denen die lebendige Basis schwindet. Kurven zeichnen und Bedarfe errechnen kann jeder. Sobald es sich um den festzustellenden Bedarf an kommenden Menschen handelt, sollte jeder hellhörig werden. Wessen Zukunft wird da verplant, wessen Kraft manipuliert, wer abgeworben, wer zugekauft, wer im voraus genötigt, wer auf dem Reißbrett entworfen, ohne Gegenbild in der Realität, ohne Aussicht aufs Werden, wer entmündigt vor aller Hoffnung, das Stadium der Mündigkeit je zu erreichen – und über allem die Frage, wer sich oder seinen Enkeln dabei die Zukunft rosig rechnet, gleichgültig gegen alles, was nicht in seine gegenwärtigen Berechnungen eingeht, weil es als 'sachfremd' voreilig eliminiert wurde. Die unerbittlichste, weil unergründlichste Umwelt ist der Mensch im Plural, dessen Existenz zuverlässig verhindert, dass meine Welt auch nur den Hauch einer Chance bekommt, sich als Allerweltswelt in den Köpfen festzusetzen.

Dienstag, 15. Dezember 2015

Achtung, Kinder

Sagen wir, ein Land hat, neben Kriminalitätsrate, Obdachlosenrate, Alkoholismus, Verkehrstoten, Drogenabhängigkeit, Altersarmut, Kinderarmut, Fettsucht und so fort, ein Bevölkerungsproblem, das heißt, es werden dort soundsoviel Prozent weniger Kinder geboren, als nötig wären, um die Einwohnerzahl zu erhalten. Was fürs erste wenig besagt, da die Zahl der, sagen wir, während eines Jahres in einem Landstrich geborenen Kinder eine komplexe, aus Lust und Laune, Bedürfnis und Vermögen, Gelegenheit und Zufall sowie einer weiteren, nur schwer zu ermittelnden Zahl mehr oder minder unbekannter Faktoren gebildete, naturgemäß schwankende Größe darstellt, auf die sogleich eine Reihe exogener Größen wie Zahl der Fehlgeburten, Kindersterblichkeit, Kinderhandel einstürzt, bevor das Zahlenmaterial sich für eine relativ kurze Zeitspanne einigermaßen stabilisiert. Unter den mehr oder minder unbekannten Faktoren, die bereits vor der Empfängnis wirksam werden, sei der Faktor 'Bewusstsein' besonders erwähnt, weil er, jedenfalls bei einer funktionierenden Praxis der Empfängnisverhütung und Empfängnisfolgenkorrektur, das Zünglein an der Waage zu bilden scheint. Warum unbekannt, werden sich viele wundern, Bewusstsein lässt sich, im Gegensatz zu anderen, schwer zu ermittelnden Tatbeständen, abfragen. Doch leider erweist sich gerade das in der Praxis als eine trügerische Gewissheit. Wie andere die Camouflage liebenden Wesen neigt der Mensch dazu, seine wirklichen Beweggründe zu verschleiern und aufdringliche Frager mit Märchen abzuspeisen. Das wissen die Fragebogen-Ersteller und bemühen sich nach Kräften, das heißt mit ausgeklügelten Methoden, den ihnen aufgetischen Wust aus Lügen und Halbwahrheiten zu 'strukturieren', um zu den bekannten halbwegs brauchbaren Aussagen zu gelangen. Theorie! So wie das Leben jede Aussage überlistet, so überlistet das Bewusstsein der Befrager, vor allem der Mangel daran, ihre Befragungs- und Auswertungstechniken, so dass am Ende die Willkür siegt. Wessen Willkür? So gewiss Wissenschaft Wissen bedeutet, so gewiss bedeutet sie Macht. Macht will wissen, daher erlaubt sie denen, die wissen oder zu wissen scheinen, den Zugang zu sich – kein Wunder also, dass ein Heer von Lampenputzern tagaus tagein damit befasst ist, dem Wissensanschein mit dubiosen Polituren aufzuhelfen, und sei es nur, um in den Genuss von Fördermitteln zu gelangen und damit im eigenen beschränkten Wirkungsfeld ein wenig Macht zu kosten.
Die beliebteste Weise, dem Wissen – oder, je nach Blickwinkel, Nichtwissen – auf die Sprünge zu helfen, ist die direkte, einfache, additive, geradlinige oder inverse Korrelation: in einem Land, das seinen Reichtum – nebst zugehörigem Gefälle –, die Höhe seiner Privat- und Staatsschulden, die Zahl seiner Homosexuellen, Bisexuellen, Genderbeflissenen, Fernreisenden, Häuslebauer, Kinderschänder, Selbständigen, Legastheniker, Spitzenverdiener, Hartz-IV-Empfänger, seiner arbeitenden, studierenden, verheirateten, geschiedenen, akademischen, alleinerziehenden Frauen und Männer in umfangreichen und unendlich kommentierten Statistiken vor den Augen der Welt ausbreitet, nimmt es nicht wunder, all diese Zahlen, absolut oder prozentual, mit oder ohne Fragezeichen, zur Erklärung des Unerklärlichen herangezogen zu sehen, dessen Erklärung doch so nahe zu liegen scheint, dass jeder Stammtisch die seine mit Leichtigkeit parat hat. Zusammengefasst lässt sich feststellen: schuld daran, dass zu wenig Kinder geboren werden, ist die Gesellschaft – kein Wunder, denn sie ist immer an ihren Zuständen schuld. Die historische Forschung trägt, nicht ungern, zur Verfeinerung des Ergebnisses bei, indem sie Jahreszahlen bereitstellt: für die einen steht die Welt, pardon: die Gesellschaft nach '68 kopf – eine Lage, die das Kinderkriegen einigermaßen erschwert –, für die anderen schafft die dankenswerterweise und ungefähr zur gleichen Zeit stattfindende Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung durch die Pille den notwendigen Experimentierrahmen für das, was als Kinderarmut auf den Seziertischen der Gesellschaftsanalytiker liegt: Wer Kinder hat, hat nicht nachgedacht. Die Moderneforschung schließlich fasst das alles glücklich zusammen: Moderne und Kindermangel sind eins.
Das ist der Stand der Dinge. Wozu all die Kinder, geborene und ungeborene, gebraucht werden, steht auf einem anderen Blatt. Arbeiterheere zum Beispiel ... wer braucht heute noch Arbeiterheere? Arbeitslosigkeit, gekoppelt mit Arbeitskräftemangel, verschiebt die Investition in den Nachwuchs von der Zahl der Kinder auf die Zahl ihrer Ausbildungsjahre. Was hier genommen wird, fehlt notwendig dort, es sei denn, man schraubt die Ansprüche an das werte Selbst und sein Fortkommen so weit herunter, dass Kinder Einkommen generieren, weil der Staat dafür aufkommt. Ungerecht bleibt die Verteilung, bei der Zahl der Abseitsstehenden, ohnehin: was als fehlende Wehrgerechtigkeit in die Geschichte des Landes einging, bleibt ihm als fehlende Reproduktionsgerechtigkeit bis in die Renten hinein erhalten. Warum also Kinder? Kein Mensch weiß, wieviel Nachwuchs ein Land wirklich braucht. Am wenigsten die Wirtschaft, denn, unter uns: es gibt sie gar nicht.

Sonntag, 13. Dezember 2015

Pauken und Trompeten

Menschen gibt es, denen wurde die Trompete in die Wiege gelegt – teils, um sie nicht in die Hände der Geschwister geraten zu lassen, teils mit dem Hintergedanken, die Welt intensiv teilhaben zu lassen an dem, was da unausweichlich heranwächst – ein starkes Stück, ein ganzer Mensch. Derlei passiert und wir wüssten nicht, ob uns die Kunde vom ganzen Menschen jemals erreicht hätte, gäbe es nicht die Trompete, mit deren Hilfe ein einzelner Mensch die so wunderbar über den Planeten verteilte Luft unversehens in einen scharfen Gegenstand zu verwandeln vermag. Im Wahlkampf zum Beispiel, pardon, im Vorwahlkampf unserer amerikanischen Freunde, ist so ein Instrument ungemein nützlich, da es den gemeinen, wenngleich gutsituierten Erdenbürger im Handumdrehen zur globalen Leit- oder Hass- oder Witzfigur befördert, am besten gleichzeitig, denn Polarisierung bedeutet alles, wenn nicht im Leben, so gewiss im Leben nach der Entscheidung, ein wahrhaftiger Präsident werden zu wollen. Die Trompete von New York zum Beispiel, wir wissen nicht mit letzter Sicherheit, in welcher Werkstatt sie die letzte Politur erhielt, hat ihn gefunden, den populären Sound, er will und will sie nicht mehr verlassen und die Kritik stöhnt – das sind Glücksmomente, die sie niemals vergisst. Und es geht weiter. Der drollige, der Erfindungskraft einer Rapper-Kolonne würdige Einfall, einen Einwanderungsstopp für Muslime aus aller Welt verhängen zu wollen, bis "wir" wissen, "warum sie uns hassen", kommt dem mit Sicherheitsparanoia unterfütterten Liebeswunsch der Nation weit entgegen, so dass man sich fragen kann, warum er nicht auch für die islamische Staatenwelt gelten sollte. Vielleicht stammt die Anregung ja aus jenen Regionen und der Twitter-Ausfall eines saudischen Prinzen gegen den Kandidaten verdankt sich weniger der Sorge um die Verfassungsprinzipien des großen Verbündeten als vielmehr der Furcht vor einer kleinen Wegänderung der Flüchtlingsströme.
Die Idee der gerechten Lastenverteilung erregt den Verdacht, dass der Mensch dem Menschen eine Last sei – bei Leuten, die 'alles' aufgeben, um ein neues Leben in einem fremden Land zu beginnen, kann man zumindest das voraussetzen und eifrige Ökonomen ... werden immer Mittel und Wege finden, positive wie negative Folgen der Masseneinwanderung, vulgo Gewinn und Verlust, in wechselnden Gleichungen gegeneinander auszuspielen. Doch das wäre nur die ökonomische Seite der Sache, obgleich die Moral auch in ihnen eine bedeutende Rolle spielt. Was der amerikanische Freund in Wirklichkeit meinen mag, ist die gefühlte, gleichfalls mit Zahlen unterfütterte Unverträglichkeit der Kulturen, – kein taufrisches Argument, doch die Vehemenz, mit der es vorgetragen wird, überrascht aus dieser Weltgegend. Wenn das Land, in dem die Identitätssuche eingewanderter Ethnien zum Business gehört und an Universitäten gelehrt wird, plötzlich zu fremdeln beginnt, dann deutet sich darin – von ferne, aber mit einem Hauch von (Bürger-)Nähe – eine Kapitulation an, man mag von der Sache halten, was man will. Kapitulation bedeutet, neben allem Möglichen, die Anerkennung von Realitäten, die Ultra-Überzeugte am liebsten unter den Teppich kehren möchten, dorthin, wo auch das geübte Auge sich mit dem Erkennen schwer tut.
Kapitulation als Kampagne: das globale Publikum wartet gespannt auf den Ausgang, weniger um aufzuatmen, wenn die Prinzipien wieder einmal gesiegt haben werden, mehr um festzustellen, wie weit die Erosion von Gesellschaft in dem Land, das auf ihren Grundsätzen und zu ihrem Schutz errichtet wurde, mittlerweile gediehen ist. Yes we can – die imperiale Formel des Noch-Amtsinhabers musste zur Umkehrung herausfordern. Diesmal fordert der Unglaube den Glauben heraus, im Namen des Glaubens – und des Imperiums, das sich erschüttert zeigt.


Samstag, 12. Dezember 2015

Die Versuchung

Es ist schon ein ziemlich verzweifelter Griff in die Mottenkiste der Nation, die religiöse Herkunft eines Landes oder einer Kultur von Staats wegen zu mobilisieren. Die Angebotsorientierung der religiös empfänglichen Bevölkerungsteile bringt es mit sich, dass damit nur Unfrieden geweckt wird – und zwar auf allen Seiten. Wer Religion will, muss sich der Konkurrenz stellen. Die großen Religionsgemeinschaften haben das begriffen: Herkunft, Geburt, Überzeugungs- und Missionierungsarbeit, dazu die polarisierende Wirkung von Gewalt und Unfrieden, soweit sie religiös bemäntelt werden, sind längst (oder wieder) stärkere Akteure auf der kollektiven Bühne als der homogenisierende Nationalstaat alter Schule. Das gilt auch in Ländern, die ihn erst als Importartikel kennengelernt haben, falls er ihnen nicht einfach von den sich verabschiedenden Kolonialmächten übergestülpt wurde. Ein vergiftetes Geschenk, wie sich alsbald herausstellen sollte und in einer Reihe von Ländern erneut unter Beweis steht. Denn die Versuchung, die gute alte Versuchung des Monotheismus, ist einfach zu groß: mit einem Staats-Gott im Rücken regiert es sich eleganter und in vielen Fällen auch effizienter als im Sog unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Wenn ihr euch nicht auf einen Glauben einigen könnt, dann glaubt wenigstens an den gemeinsamen Staat: die Formel ist zweideutig, auch ein wenig zwielichtig wie alle Lösungen, die aus Resignation ersonnen wurden und zu triumphalen Erfolgen führten. Denn nur der gottgefällige Staat kann einem religiösen Gemüt die Zustimmung abringen, die man Glauben nennt und die sich in der Opferbereitschaft des Einzelnen für die Gemeinschaft vollendet. Der geglaubte Staat wird immer eine Art von Staats-Gott in der Hinterhand haben. Ein Staat hingegen, an den keiner glaubt (denn die Intellektuellen glauben nicht, sie machen glauben), ist immer noch für viele Funktionen gut, aber er wird vermutlich aufgegeben, wenn er am Nötigsten wäre, er ist nicht wetterfest.
Was tun? Der Stimme der Resignation folgen, die sich gern als die der Vernunft ausgibt? Uns ein weiteres Mal auf die Straße des Triumphalismus begeben? Wo, bitteschön, läge der Unterschied? Und wer wohl wäre – wir? Wie gesagt, die Religionsgemeinschaften haben nichts gegen Konkurrenz, sie belebt das Geschäft. Sie haben auch nichts gegen den Staat, auch er belebt das Geschäft, wenngleich aus anderen Gründen. Der laizistische Staat zum Beispiel bietet den Vorteil, dass er klar definiert, wo die seriösen Geschäftsfelder liegen und nach welchen Regeln sie bearbeitet werden dürfen. Dass er damit auch eine schwarze Religiosität erzeugt, die gewillt ist, sich – um Gottes willen – nicht an die Regeln zu halten, nimmt er gern in Kauf, weil ... nun, weil erst sie den Kontrast ergibt, den die Zivilreligion benötigt, um sich in Szene zu setzen. Dennoch grenzt seine schiere Existenz an ein Wunder – kein Wunder also, dass seine Inszenierung regelmäßig einen Abgrund an Heuchelei offenbart. Im laizistischen Staat falten die Bewohner (um es bei der christlichen Geste bewenden zu lassen) die Hände zweimal: vor der Brust und hinter dem Rücken. Das stimmt auch dann, wenn ihr inbrünstig geglaubter Gott Mammon heißt. Man könnte sagen, sie gehen von einer Geste erfrischt zur anderen über, aber das riecht, wie vieles, nach Hypothese und klingt fast schon gewagt.

Blaue Blume Verwegenheit

In Krisensituationen gewinnt, wer zuzuspitzen versteht. Der Umkehrschluss drängt sich auf, dass ein Land (oder ein Kontinent), in dem nur noch ein Thema herrscht und das darüber in zwei Fraktionen zerfällt, sich in der Krise befindet. Nun, es gibt künstliche Krisen, das weiß doch jeder, und es gibt Krisen, in denen es töricht wäre, gewinnen zu wollen, weil sie auch dann nicht weggingen – vielleicht gerade dann nicht weggingen, weil man selbst, als kritischer Teil der Gesellschaft, Teil der Krise, vielleicht ihr Hauptverursacher ist. So begnügt man sich damit, in der Krise – soll heißen: durch sie – stärker zu werden, bis einem irgendwann, in sonnigeren Zeiten, die Macht zufällt, aus keinem anderen Grund, als weil sich die anderen an die eigene Stärke gewöhnt haben. Schließlich lässt sich niemals ausschließen, dass die herbeigeredete Krise sich eines Tages materialisiert, gleichsam vor der Tür steht und stürmisch Einlass begehrt, sie vielleicht bereits eindrückt oder -tritt: Ist sie deshalb Gerede? Eine stürmische Gegenwart setzt die Parameter der Vergangenheit neu – wer gestern noch als kurz- oder sogar stumpfsinnig galt, kann sich heute in der Aura des Weit- und Umsichtigen sonnen, der immer gewarnt hat und dessen Rezepte deshalb Prestige genießen. Dennoch werden sie nur in den seltensten Fällen übernommen. Warum? Es wäre 'zu einfach'. Es wäre zu einfach, dem verachteten Gegner von gestern, nur weil er mir gefährlicher wurde, nun auf einmal Kredit zu gewähren und ihm zu folgen. Das Gegenteil ist der Fall. Wie in den Patentkämpfen der Wirtschaft gewinnt, wer die Herkunft der eigenen Lösungen am erfolgreichsten zu verschleiern versteht. Wem angesichts der Massenflucht aus zwei Erdteilen das Wort 'Obergrenze' tabu ist, der behilft sich dann eben mit Kontingenten – nebenbei bemerkt, ein schlechtes, weil allzu durchsichtig gestricktes Beispiel, dem auf den Zuschauer-Rängen der blanke Hohn begegnet, während die Gefolgschaft sich aufs Abwarten verlegt, also auf die Gelegenheit abzuspringen, sobald das Volk nicht mehr mitzieht.
Das Volk? Welches Volk? Welche Rolle fällt in der Krise dem Volk zu?
Das kommt auf die Phase an. In der ersten versuchen die Inhaber der Regierungsgewalt, es von den Entscheidungen auszuschließen und die aufkeimende Unruhe zu dämpfen, in der zweiten, ihm 'nach dem Maul' zu reden und seinen Zorn gegen die populistischen Herausforderer zu lenken, in der dritten –
... Reden wir nicht über die dritte. Die dritte Phase, falls sie denn einmal eintritt – was zu verhüten wäre –, folgt ihren eigenen Regeln, den uralten Regeln des Hauens und Stechens, bei dem zuvor keiner weiß, ob er wieder nach Hause kommt und ob sein Zuhause dann noch steht. Es sei denn, alle verstehen einander plötzlich bei belegter Stimme und die Krise fällt, mangels Zuspruch, bis auf weiteres aus.

Freitag, 11. Dezember 2015

Wir Etatisten

Man möchte ihn, als Gedanken, niemandem zumuten, aber der Populismus ist ja nicht eigentlich der Wunsch, populär zu sein, also der beständige Antrieb, dem Volk nach dem Mund zu reden, während man es von Herzen verachtet, sondern ein Themenpark, dessen Bearbeitung ansonsten der Polizei und den Gerichten überlassen bleibt, also das Verächtlichmachen Andersdenkender, die Beschimpfung des Nachbarn, mit dem man ansonsten an einem Tisch sitzt, sobald es etwas zu holen gibt, das stete Streben, für die eigene Klientel mehr herauszuholen, als bei nüchterner Betrachtung 'drin' ist, die Selbstbedienung bei vollen (oder auch leeren) Kassen, also das ganz normale Handwerk des – nein, nicht des politischen, dem Gemeinwohl verpflichteten Menschen, sondern des Menschen, der sich gehen lässt, nur eben in der Politik oder 'im Politischen', falls der kleine Unterschied auffällt. Daher handelt es sich um eine klassische Fremdzuschreibung, man kann auch sagen eine Beleidigung Andersdenkender, jedenfalls um eine Denunziation, in der Regel diktiert durch allzu große Nähe: man kennt sich, man hasst sich, man reibt sich, man hat einander intus, man möchte einander loswerden: so geschehen (und gesehen) im Fall des Linkspopulismus, der klassischen Abweichung von der dogmengesteuerten Linie nach dem Motto: Wir wollen die Zukunft jetzt.
Entsprechend könnte man es sich leicht machen und den Rechtspopulismus, wie es auch oft geschieht, unter die Parole stellen: Wir wollen die Vergangenheit jetzt. Es ist ja etwas dran, kein Zweifel, wie die 'christliche' Abendländerei immer wieder beweist. Doch sollte man bei derlei Kampfgeschrei nicht vergessen: der Antipode zum Populismus heißt Etatismus. Es wäre schön, handelte es sich dabei bloß um den Glauben an die alleinseligmachende Kraft des Staates, für seine Bürger nach dem Rechten zu sehen und ihnen die Risiken der Existenz mit Spielgeld vom Leib zu schaffen. Wie immer weist auch hier die Gruppe den Weg zur besseren Definition: 'Etatismus' meint die Okkupation des Staates durch Eliten, die den Weg zur Macht gefunden haben und um (fast) jeden Preis verhindern wollen, dass ihn jemand nach ihnen betritt.
Es ist das "Nach Ihnen!", das diesem Personenkreis zu schaffen macht, zu Recht, wie jeder versteht, denn es ergibt, aus ihrer Interessenlage gesprochen, keinen Sinn. Schließlich sind sie die Partner des Volkes und nehmen seine Belange ernst. Und sie sind, in der Regel jedenfalls, populär. Jede Umfrage, jeder Urnengang bestätigt ihr Selbstverständnis und spricht sie frei. Woher die Angst der Populären vor dem Gespenst des Populismus? Denn er ist ein Gespenst, eingesperrt ins Ghetto der Minderheit, genauer gesagt, der Mehrheits-Minderheit, jener stets existierenden Minderheit unter der Mehrheitsbevölkerung, die angesichts der Verhältnisse (und ihrer drohenden Fortschreibung) die Nerven verloren hat und nach der Wende verlangt: jetzt und hier. Diese Minderheit existiert immer, sie ist nicht gefährlich, nur in Krisenzeiten schwillt sie gefährlich an und infiziert die Mehrheit mit dummen Gedanken, unter denen der dümmste noch immer lautet: Du kannst etwas tun. Wie das? Wäre das die Quintessenz aller Gefahr? Unter Demokraten, die darin nicht die Ver-, sondern die Heimsuchung fürchten, gilt die Parole als Impfstoff, als multiples Gegengift, das in Notzeiten an die eigenen Anhänger ausgegeben wird und mit etwas Glück auf der Straße zur Randale führt, die man den anderen anhängen kann.
Das ist auch dumm, das ist auch gefährlich, denn der Populismus besitzt sein Potenzial nicht unter den Radaubrüdern, mit denen er in der Öffentlichkeit gern identifiziert wird. Der Radau ist der Nasenring, an dem der besorgte Bürger immer wieder durch die Manege gezogen wird: "Sieh zu, mit wem du dich einlässt, wenn du im Traum daran denkst, uns von den Töpfen zu entfernen!" Das funktioniert, man muss sagen, es funktioniert bei mittlerer Bedrohungslage, schwer abzuschätzen, wo der Kipp-Punkt liegt. Vor allem funktioniert es angesichts an- und abschwellender Krisen – angesichts der lastenden Dauer imminenter als Bedrohung empfundener ›Lagen‹ sollte man sich seiner Wirkung nicht sicher sein. Nüchtern betrachtet, ist es ein Rezept, um Zeit zu schinden: nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass alle Politik auf Zeit geschieht, aber alles andere als überzeugend, weil es auf die Kraft der Überzeugung verzichtet, mit der alle Politik beginnt.

Dienstag, 8. Dezember 2015

Täter*innen

Tagaus tagein bereichert das Fernsehen unser Leben. Davon lässt sich doch eine Scheibe abschneiden, oder nicht? Nehmen Sie das ruhig wörtlich, es könnte sein, dass Sie diese Scheibe, ein winziges Scheibchen vielleicht, noch einmal benötigen werden. Respond or die. Nie gehört? Auf welchem seligen Planeten leben Sie denn? Nein, nicht diese Töne, das verbitte ich mir. Ich bin Humanist. Was habe ich gesagt? Ups, das habe ich gesagt. Oder, gedehnt, wie es richtig gesprochen wird: "Oooops!" Comic-Sprache, ja gewiss, was ist daran auszusetzen? Ohne Comic kein Leben, jedenfalls keins, das die Wiederholung lohnte. In der Wiederholung, pardon, im Wieder-holen, liegt unsere Stärke. Erst das Wiederhergeholte ist wirklich, denn: zwischen eins und zwei spielt die Musik, wenn Sie verstehen. Diese kleinen Reminiszenzen, die unseren Alltag beschleichen, sich hier einnisten, dort eine Färbung bewirken, die gerade noch nicht zu sehen war, eine Gemüts-Färbung, wenn Sie so wollen, doch manchmal wird selbst das Sehen, wie sage ich, affiziert... Und die Rede! Wir haben gesehen und reden wie Erstlinge nach der Taufe. Das Weihwasser, das unsere Haut netzt, verleiht uns nicht mehr und nicht weniger als: Sprache. Aber dieses Segenswasser, was soll ich sagen, es perlt ab, es verdunstet, es verschwindet auf Nimmerwiedersehn und hinterlässt ... kleine, sich rasch verflüchtigende Effekte. Was der Mensch leisten kann, zeigt sich erst in der Wiederholung. Die Wiederholung ruft dem Flüchtigen zu: Steh! Und – es steht. Ohne Zweifel, es steht. Auch das nicht ohne Weiteres, Korrosion ist ein großes Thema, aber: es steht. Was da steht, geschrieben steht in der Brust, nein, nicht in der Brust, in den Zellen, die der Körper in weiser Voraussicht für seine Aufnahme vorbereitet hat, ist kein Lebensbegleiter, wie manche naiverweise vermuten, es ist das Leben des Individuums, das sich zur Ausführung bringt. Wenn z.B. das abendliche Krimi-Programm vermehrt Ups-Täter*innen (soll heißen Personen überwiegend weiblichen Geschlechts) enttarnt, die aus einem affektiven Impuls heraus ohne Tötungsabsicht zum nächstgelegenen Gegenstand greifen, der sogleich absichtsfrei und umstandslos seinen Zweck erfüllt, dann nicht, um vor der Gefährlichkeit der dinglichen Welt oder der Welt der Affekte oder irgendeiner anderen Welt zu warnen, nein, es geschieht (neinnein, nicht um zu ermuntern, in diese Falle gehe ich nicht), es geschieht, damit alles auf die rechte Weise geschieht. Sehen Sie, das Ups ist nun einmal in der Welt, aber wie jede natürliche Lebensform bedarf es der steigernden Kraft, der Sonne, wenn Sie so wollen, der pflegenden und stärkenden Hand, um sich aus dem Gestrüpp zu erheben, in dem es unweigerlich erstickt, sofern niemand sich darum kümmert. Das Fernsehen ist ein großer Kümmerer,  der größte, den wir haben, praktisch kümmert es sich um alles. Die Förderung des letalen Ups gehört unter seine kühneren Streiche, weil sie dem, was Menschen gelegentlich unterläuft und sie, neben dem kriminellen Befund, unfassbar dämlich aussehen lässt, eine ordentliche Fassung gibt, einen Schnitt, mit dem es sich sehen lassen kann: U-p-s. Von Sinnen sein muss nicht unsinnlich aussehen. Behalten Sie die Kontrolle: Ups. War da etwas? Ich sehe es nicht. Ups. Sehen Sie mich an: Sehe ich so aus? Ups. Es war leicht, wissen Sie, schwerelos. Es bot sich an. Ups. So ein Angebot schlägt man nicht aus. Ups.
Ohne Zweifel ist der Mensch von Sinnen. Ich fürchte, wir verstehen uns.