Zur Ökonomie der Illusion


Die Ökonomien der Illusion und des Vergessens sind eins.

Samstag, 12. März 2016

Honk und Troll

Der Gedanke, einen Großteil der sogenannten Meinungsäußerungen in den sozialen Netzen Geheimdiensten und ihren Subunternehmen zu verdanken, die einander die Bälle respektive Beleidigungen zuschleudern, an denen der brave Bürger sich labt, während er sie von Herzen verabscheut, besitzt, neben allem Ärgerlichen, auch etwas Erheiterndes: Man hätte in den Anfängen der Technik nicht erwartet, den Bereich zwischenstaatlicher Fürsorge so bald über Bereiche ausgedehnt zu sehen, in denen neben Katzenliebhabern und Morgenlicht-Fotografierern vor allem jener Typus von Zeitgenossen unterwegs ist, der in vergangenen Zeiten mit dem Ruf »Extrablatt! Extrablatt!« den innerstädtischen Bummel in den Rang eines Informationserlebnisses erhob.
Natürlich durfte sich, wer wollte, schon immer leise wundern, mit welcher Selbstverständlichkeit das Volk der Urlaubsplaner und politischen Weißnichte sich der verbalen Handschuhe entledigt, um seinen Repräsentanten – und sich gegenseitig – an den Kragen zu gehen, man konnte sich fragen, ob wohl der biedere Nachbar… oder die reizende Nachbarin… Ein Unterschied blieb jedoch immer auffällig: die klassische Latrinenparole ist derb, treffend und sprachgeboren, soll heißen, sie entstammt jenem dürftigen, aber völlig sicheren Sprachwitz, der schon Papa Freuds surrealistische Erben zum Nachdenken anregte. Der typische Facebook-Eintrag hingegen bedient sich eines eisernen SPO-Schemas, das der deutschen Sprache nicht besonders angemessen, aber leicht in anderen Sprachumgebungen reproduzierbar ist, und er bekundet sein Fremdeln mit der Sprache am auffälligsten durch die vielen kleinen und größeren, für second-language speakers typischen Grammatikverstöße, die auch in den Mainstream-Medien mittlerweile gang und gäbe sind.
Was folgt daraus? Das Deutsche, wie jede andere Kultursprache, hat ein offenes Ohr für neue Sprechergruppen, deren Eigenheiten es willig adaptiert. Dem Umstand, dass dem Qualitätsjournalismus dabei eine besondere Rolle zuwächst, verdankt die lesende, die ins Lesen versunkene oder lesend versinkende Welt das eine kleine Weile noch unsterbliche Werk des Wiener Sprachdemagogen Karl Kraus – schade, dass er nicht hinreichend mit den modernen Aufgabenfeldern der ›Intelligence‹ vertraut war, um auch ihnen seine kostbare Feder zu widmen. So bleibt, immerhin, hier viel zu tun und warum sollte sich nicht doch einmal ein Nachfolger finden, unter dessen Fingern die große Troll-Oper, das Drama der letzten Zuckungen einer Sprache, die zu Goethes Zeiten bereits gebildet genug schien, um selbsttätig für ihre Sprecher zu dichten und zu denken, Gestalt annimmt? Höchstens erhebt sich an dieser Stelle die Frage, warum bei jedem Unflat, der gerade verbreitet wird, ein Gebildeter aufsteht und behauptet, er sei das Letzte, während er doch nur der letzte, sprich: neueste ist, dem der nächste aufs Stichwort folgt.
Um auf die geheimen Dienste zurückzukommen, die uns unentwegt von anonymen, aber offenbar nicht völlig unerkannt bleiben wollenden Dienstleistern offeriert werden, so darf als wirkliches Mysterium gelten, wie willig sie von ernsthaften, ums Gemeinwohl oder die Menschheit oder das Klima oder eine aussterbende Rattenart besorgten Mitmenschen kopiert, reproduziert, variiert und millionenfach verbreitet werden. Der automediale consumismo vernichtet nicht, er vervielfacht, indem er verzehrt. Um es in die Sprache der Biosphären-Erhalter zu gießen: der Fußabdruck des Trolls verschwindet nicht, wenn die Menge darüber hinwegtrampelt, er wächst unaufhörlich, gelegentlich in Dimensionen, bei denen die ohnehin alarmierten und sicher keineswegs untätigen Wächter der Eigenstaatlichkeit nach dem roten Knopf zu suchen beginnen… Es ist nicht alles Maidan, was wütet, aber die Welt kennt viele brauchbare Plätze und jedes Blutvergießen beginnt dort, wo es letzten Endes sein Ziel findet: im Kopf.
Aber vielleicht haftet auch dieser Vorstellung noch etwas Laienhaftes an, aus dem einfachen Grunde, weil Menschen nicht aufhören können, sich Menschen mit menschlichen Motiven und menschlichen Absichten vorzustellen, sobald sie auf verstümmelte Regungen der Sprache stoßen, während die Maschinen, die gegen sie in Stellung gebracht wurden, einander längst, darin bestimmten Programmen der Automobilindustrie vergleichbar, aus dem Ozean der ›Informationen‹ herausfiltern – zu dem organisationslogisch völlig korrekten Zweck, sich aneinander zu steigern und wechselseitig immerwährendes Wachstum zu garantieren, so lange, bis Deckungsgleichheit erreicht ist oder wenigstens jene ›pädagogische‹ Relation von eins zu fünf in Bezug auf die Gesamtbevölkerung, die vergangene Regime für vernünftig hielten, um erstere in Schach zu halten, nur eben nicht auf der Ebene der weitgehend überflüssig gewordenen Informanten, sondern jener der Maschinenmenschen oder Menschmaschinen, deren einzige Aufgabe darin besteht, zu meinen, immerfort zu meinen, während sie doch zwischen Mein und Dein ebensowenig zu unterscheiden wissen wie zwischen Sinn und Unsinn. Wer meint, dieses selige Gesellschaftsstadium sei bereits erreicht, der wird dann auch geneigt sein, ihnen jeden Unsinn durchgehen zu lassen – im Vertrauen darauf, dass Maschinen, solange man sie in ihrer natürlichen Umwelt belässt, nichts Böses anstellen können. Denn böse, richtig böse ist allein der Mensch, dumm nur, dass die natürliche Umwelt der Maschinen auf diesen Namen hört.

Montag, 7. März 2016

Beckmesser

»Ehrlich gesagt, ich möchte nicht von Rauschgiftsüchtigen regiert werden...« – man hat den Unbekannten am Nollendorfplatz nicht ausreden lassen, Vokabeln wie »Nazi«, »Denunziant«, »Schweinehund« prasselten auf ihn nieder und als die Polizei ihn anschließend wieder auf die Beine stellte, um, vermutlich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses, seine Personalien festzustellen, nützte eine junge Dame die Gelegenheit und spuckte ihm kräftig ins Gesicht.
Was treibt die Leute zu solchen Auftritten? Warum murmeln sie nicht oder belassen es bei stummen Selbstgesprächen? Sie können es doch, ja, sie können es, sie können es gut und haben es längst praktiziert, bevor ihnen Wörter von den Lippen purzeln, die sie irgendwann gelernt haben, aber, wie es scheint, nicht mit Erfolg. Denn sonst wüssten sie, dass sich hinter einer einfachen Aussage zwei ganz und gar nicht einfache verbergen, manchmal auch drei oder vier, Gesinnungs-Virtuosen kommen auf fünf oder sechs, aber das bleiben Ausnahmen. Ausnahmen wovon? Na von der Regel, Dummerchen. Die Regel besagt, dass Sätze, auf die man sich öffentlich einigt, von keiner der beteiligten Parteien so gemeint sind, wie es ihrem grammatischen und lexikalischen Gepräge entspräche.
Wissenschaftler und Theaterleute nennen solche Sätze ›performativ‹, sie gelten für die Dauer einer Inszenierung und darin nur an Stellen, die eigens dafür geschaffen scheinen, ihnen einen ganz eigenen Sinn zu geben. In der Praxis dürfte es eher umgekehrt zugehen und sie müssen als Nothelfer einspringen, um prekäre Situationen zu bereinigen. Ja, es gibt ein Prekariat jenseits der Armen und allzu flüchtig Beschäftigten – das Prekariat der Staats­schau­spielerei, bei dem es darauf ankommt, noch einmal die Kurve zu bekommen, gleichgültig, welche Position man gerade vertreten hat und wer einem darin gläubig und willig folgte. Die Macht hält es in solchen Fällen mit der Dreigroschenoper, in der es bekanntlich heißt: Dein Bruder, welcher an dir hangt, / wenn halt für zwei das Fleisch nicht langt, / tritt er dir eben ins Gesicht. / Beständig sein, wer wollt’ es nicht?
Das Wunderbare der politischen Gefolgschaft scheint aber darin zu bestehen, dass diejenigen, denen da ins Gesicht getreten wird, freundlich weiter lächeln und ihrer Begeisterung darüber öffentlich Ausdruck verleihen, dass die Dinge so gut laufen und die Schlimmen, die die Kehrtwende erzwungen haben, weiterhin die Schlimmen sind, denen man alle Vorwürfe anhängen kann, die gerade noch an die eigene Adresse gingen, zum Beispiel den Spalter-Vorwurf, bestens bekannt aus totalitären Systemen, in denen die Einheit der Partei – und des Volkes – allem anderen voranging. Nun soll es die Gesellschaft sein, die von den anderen gespalten wird. Wie das? Ist sie ein Holzklotz und es bedarf der spaltenden Axt, um sie, nun ja, zu … spalten? War nicht gerade sie von Anfang an gespalten und jene schlimmen Anderen hatten die undankbare Aufgabe übernommen, auf diesen Missstand (der vielleicht keiner ist) hinzuweisen und aus ihm, schlimmster aller Vorwürfe, ›politisches Kapital zu schlagen‹ – mit der Axt?
Ich erbitte ein Denkmal für den Unbekannten vom Nollendorfplatz – nicht, weil mir das Drogenthema persönlich nahegeht, sondern weil die Droge Macht nur durch eine einzige Instanz wirksam in Schach gehalten werden kann: jene gespaltene Gesellschaft, in der sich immer jemand findet, der den Jublern, den Fähnchenschwenkern, den gemüts- und sonstwie abhängigen Jasagern und Möchtegern-Demagogen ihre eigenen Sätze so ins Gesicht zu sagen weiß, dass ihnen der Kamm schwillt. So, mit geschwollenem Kamm, können sie demonstrieren, wie sie es wirklich halten mit der von ihnen frenetisch reklamierten Freiheit, die bekanntlich immer die der Andersdenkenden ist und entsprechend geschützt werden muss. Vor den Andersdenkenden?
Man kann den Schutz der Andersdenkenden vor sich selbst so weit treiben, dass ihre Häuser und Arbeitsstätten darüber in Rauch aufgehen und sie als Flüchtlinge Länder durchziehen, die gerade über Schutzmaßnahmen brüten, während militante Andersdenkende voreilend Unterkünfte abfackeln, in denen die Gedrückten vor ihren gleichfalls andersdenkenden Beglückern ein wenig Ruhe finden könnten. Das kommt vor. Man sieht die Bilder und man denkt sich nichts – ganz im Gegenteil. Tückisch, wie die Rede vom Anderen einmal ist, hat sie diese Situation längst inkorporiert. Das Andere ist stets das Andere seiner selbst, soll heißen, es bedarf des Befremdens, um seiner ansichtig zu werden. Kratze an einem Befremden und du triffst auf eine Versagung, soll heißen, auf ein Stück Selbst-Distanzierung, das gern verborgen bliebe, weil es nur im Verborgenen seine moralische Kraft entfaltet. Es ist viel von Moral die Rede in diesen Tagen, da kommt das Drogenthema gerade recht, um den Ton leiser zu stellen.

Samstag, 5. März 2016

Innen tobt Er

Die Neigung meines Onkels zur Geschichtsklitterei hatte verschiedene Gründe, darunter historische: Im Sommer ʼ45, als es galt, dem Heimwärts­drang der Füße zu folgen, erlaubte sie ihm, falls man seinen Reden Glauben schenken darf, mehreren alliierten Militärposten ein Schnippchen zu schlagen und so zu verhindern, dass er im nächstgelegenen Kriegs­gefangenen­lager landete. Ja, man sagte ›landen‹, um anzudeuten, dass der Irrflug des aufgescheuchten Subjekts doch einmal zu Ende gehen musste. Das Radebrechen ging meinem Onkel noch zu meiner Zeit glatt von der Zunge, er konnte Identitäten nach Belieben auffahren, sobald ihm danach war oder die Umstände es verlangten. Milieu-Angst lag ihm fern, er stürzte sich auf fremde Milieus, etwa das meiner studentischen Freunde, und achtete der Peinlichkeit nicht: ein Zug, den ich gelegentlich an unseren Medien bewundere, gerade jetzt z.B. aus Anlass des amerikanischen Wahlkampfs, doch der Gelegenheiten sind viele. Vielleicht war – und bin – ich durch ihn gewarnt: sobald ich eine Zeitung aufschlage, halte ich unwillkürlich nach dem nächsten Kontrollposten Ausschau – es könnte sein…
Der rumänische Schriftsteller Cioran, der im Pariser Dauerexil seine dritte oder vierte Identität auftrug, nachdem der andere Teil schäbig geworden war, erzählte mir einmal, nach dem Krieg hätten sich die Deutschen, die bei ihm klingelten, gern als Schweizer ausgegeben, sehr zu seinem Vergnügen, da er lange genug in Berlin gelebt hatte, um sein Ohr für die verschiedenen Dialekte zu schärfen. Diese eingebildeten Schweizer gebärdeten sich, sobald die Rede floss, als die härtesten Kritiker der Deutschen, wider alle unernsten oder auch ernsten Einreden des Gesprächspartners: wie gesagt, sehr zu seinem Vergnügen, da er das Spiel durchschaute und den Angstschweiß riechen konnte, der langsam durch ihre Hemden kroch. Man sollte nicht glauben, solche Dinge seien in der Generation abgetan, in der sie passierten, sie schlagen immer wieder nach außen und ein Großteil der heutigen Reden über die Deutschen, privat oder öffentlich abgesondert, sind fingierte Schweizerreden – man hört das ›Klick!‹, wenn der Schalter umgelegt wird, und weiß schon Bescheid. »Innen tobt Er« hat einmal jemand geschrieben, und es ist was dran, es ist was dran.
Was dran ist, das müssen am ehesten jene ›Bürger‹ erfahren, in denen ›Er‹ weniger oder gar nicht tobt – auch das soll es geben. Da wäre es doch besser, sie gingen ihrer Arbeit nach und überließen den anderen den Staat, ihren Staat, der schließlich, wenn man den Reden der öffentlichen Neurotiker lauscht, aus nichts als Kraft besteht, aus Wirtschaftskraft, ›bärenstark‹, jedenfalls stark genug, um die Probleme des 21. Jahrhunderts zu schultern, worin immer sie bestehen mögen. Fehlt zur Kraft und zur Macht nur die Herrlichkeit, die durch die Gender-Terminologie ein wenig in Verruf geraten ist, aber nach wie vor existiert. Die Herrlichkeit der Deutschen, jeder weiß es, lässt sich in zwei Buchstaben pressen: E–U. Für jedes deutsche Dilemma eine europäische Lösung: dieses ›Mantra‹ derer, die uns regieren, erzeugt den Extraposten Europäertum, der sie in Europa zusehends isoliert. Ordere einen Europäer und du bekommst eine Deutsche – und umgekehrt, der Effekt bleibt der gleiche. Die Kraft, die stets das Gute will und stets … zwar nicht das Böse, aber eines seiner Derivate schafft, mit denen die Regierungen der umgebenden Staaten ihren eigenen Ablasshandel betreiben, lässt mich erneut an meinen Onkel denken, dessen lebenspraktische Interventionen stets, was meine Person anging, an derselben Klippe zerschellten – sie konnten den Umstand nicht aus der Welt schaffen, dass überall dort, wo mein Lebensentwurf auf dem Spiel stand, das Gefühl des Bedrohtseins in meinem Herzen aufstieg und alle weitere Einflussnahme vereitelte.
Mein Lebensentwurf … die europäischen Staaten sind alte, zum Teil auf lange vorstaatliche Erfahrungen zurückgehende Gebilde, die ihren jeweils eigenen Entwürfen folgen. Europa ist kein Traum, es ist eine Realität, in welcher den Institutionen der EU eine begrenzte Rolle zukommt: gewünscht, gewollt, respektiert, auf Evolution angelegt, aber nicht grenzenlos und keineswegs auf Dauer geschaffen, um eine große Exportnation zu saturieren. Übrigens gilt das Subsidiaritätsprinzip, auf das sich die Staaten der Union einmal geeinigt haben, auch auf intellektuellem Gebiet. Europa wird die Identitätsprobleme der Deutschen ebenso wenig lösen wie ›der Westen‹, schon der Gedanke daran erscheint lächerlich und obszön – obszön, gewiss, in seinem Mix aus Selbstauslieferung und Entblößung. Die Deutschen wissen nicht, wann sie anstößig werden, dies- und jenseits allen ›Verhaltens‹: ein altes Thema und ein europäisches dazu. Die Deutschen? Nein, keineswegs. Man kann, als Deutscher, am deutschen Europa-Zwang leiden wie an jedem anderen, ohne ›europafeindlich‹ zu denken.
In diesem Sinne: Werdet Briten! Oder – gelernt ist gelernt – Schweizer.

Donnerstag, 3. März 2016

Geschichte von hinten

All meine Tanten und Onkel sind tot, gefallen in jenem ungeheuren Bürgerkrieg, der Altern heißt. Zeit also, hinter ihnen herzuspionieren. Was sie getan haben, es sei ihnen geschenkt. Was sie mir angetan haben, ich weiß es nicht. Natürlich weiß ich es, aber ich weiß es nicht wirklich, so, wie es sich für ein ordentliches Wissen gehört, beidseitig, mit einer soliden Portion Verständnis für ihre Denkweise und, wichtiger vielleicht noch, für die Gründe, aus denen sie dies oder jenes getan haben, aus denen sie mir dies oder jenes angetan haben. Denn, unter uns, es waren schlimme Finger darunter, die keine Gelegenheit passieren ließen, mir eins auszuwischen. Was habe ich gelitten! Nun ja, es wird sich in Grenzen gehalten haben, Kindertränen trocknen schnell. Doch Kränkungen, die man im jugendlichen Alter erfährt, gehen tief und wirken lange nach. Manche begleiten einen ein Leben lang. Warum? Warum taten sie mir das an? Was hatte ich ihnen getan? Ich weiß es nicht. Eines weiß ich: Sie flößten mir Furcht ein, gepaart mit Zutrauen – eine böse Mischung, übrigens für beide Seiten.
Zutrauen ist vielleicht das falsche Wort, ich ersetze es durch das Wort ›Nähe‹. Ja, sie gingen mir nah, näher jedenfalls als der Lebensmittel-Verkäufer an der Ecke, näher auch, auf eine vertrackte Weise, als meine Schulkameraden und ihre Eltern, die weniger Furcht einflößten als das Bedürfnis zu imponieren, ›gut dazustehen‹, wie man das nannte, also: mich zu behaupten. In der Nähe der Tanten und Onkel schmolz der Behauptungswille wie Schnee an der Sonne, so bitter nötig er gerade ihnen gegenüber gewesen wäre. Jede Stichelei ein Fegefeuer: Sie kennen das Muster? Man hasst sie, man schmäht sie, man wünscht ihnen das Schlimmste an den Hals, aber – schön innerlich, es darf nichts nach außen dringen, bei Strafe der Lächerlichkeit und des Stirnrunzelns aller familiären Autoritäten. Tanten und Onkel kommen immerzu mit, sie sind die Begleiter des unreifen Menschen, gleichgültig wie beide Seiten über die Rolle denken, die ihnen da in ungewissen Nächten aufgehalst wurde. Es juckt ja nicht nur die Rolle: Wer weiß, wann Tante Else das erste Mal instinktiv vor dem hässlichen Balg zurückzuckte, für den sie in Gedanken bereits Zuckervorräte anlegte, wann Onkel Erwin sich ernsthafte Gedanken über die sexuelle Verlässlichkeit seiner Schwägerin zu machen begann und wann Tante Annegret den ersten Ausspruch des Nachwuchs-Einsteins ›unmöglich‹ fand? Niemand weiß es, sie haben ihren Schauder und ihre Verletzungen stumm ins Grab mitgenommen, denn so schrieb die familiäre Rolle es vor.
Einer meiner Onkel – er wohnte nach seinem frühen Weggang aus der SBZ in Frankfurt am Main, genauer gesagt, in der Moselstraße, und bot dem Milieu bis kurz vor dem Ende eine eiserne Stirn – erzählte mir, in den ersten Jahren habe er oft am Bahnhof gestanden und sich den leicht an ihrem Äußeren kenntlichen DDR-Flüchtlingen als Fremdenführer angedient. Wenn er sie dann durch die rasch wachsenden Betonschluchten der Main-Metropole kutschierte, pflegte er großspurig zu erläutern, alles, was man hier sehe, sei das Werk der Arbeiterklasse, derselben, der man im Osten weismache, sie herrsche, während sie doch nur ein armseliges Kümmerdasein unter der Knute der Funktionärskaste führe. Was mögen seine von den Strapazen der letzten Nacht ausgelaugten Fahrgäste wohl gedacht haben? Sicher haben sie die gleiche – oder eine ähnliche – Nähe gespürt wie ich, und sicher haben sie auch die Drohung wahrgenommen, die sich mit ihr verband, schließlich wollten sie heil davonkommen, deshalb waren sie immerhin aufgebrochen. Ich stelle mir meinen Onkel als Jäger Gracchus vor, noch immer die Hand am Steuer, alterslos, ungebrochen, neben sich einen der heute ins Land strömenden Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, einen jungen Mann vielleicht, Anfang oder Mitte zwanzig, und höre den Alten mit Greisenstimme dozieren, dieses Land sei schon immer ein Land der Flüchtlinge gewesen – nach den Skandinaviern seien die Italiener gekommen, die Spanier, Franzosen, Polen, Balten, Juden, Rumänen, die Griechen, Türken, Kurden, Chinesen, Albaner, Kroaten, Serben und Kosovaren, sie alle hätten den gemeinsamen Grund auf ihre Weise geprägt, kein Wunder also, dass sich alle ein wenig unheimlich auf ihm fühlten, deshalb treffe es sich ausgezeichnet, dass er und seinesgleichen jetzt die Chance bekämen, ihn endlich wohnlich zu machen und richtig gut zu finden: »Dies ist das Land der Malocher. Also lerne malochen. Der Rest kommt von allein. Du musst unten anfangen, verstehst du? Die Deutschen studieren jetzt alle, da fehlt es unten. Was, du hast auch studiert? Na prima, dann weißt du ja, wie ne Klospülung funktioniert.«
So war er, mein Onkel. An einem anderen Tag hätte er, Zigarre im Mund, sich vielleicht folgendermaßen erklärt: »Weißt du, Junge, das ist eine deutsche Stadt. Du wirst noch viele deutsche Städte kennenlernen, aber das ist eine deutsche Stadt. Deutsche Tüchtigkeit hat sie gebaut, da musst du dich schon dran gewöhnen. Ihr seid mir ein bisschen viel in der letzten Zeit, was wollt ihr hier eigentlich? Wenn ihr denkt, ihr könnt den Laden übernehmen, dann habt ihr euch schwer getäuscht. So läuft das Ding nicht.« Als Integrations­beauftragter wäre er eine große Nummer, zu meinem Leidwesen, denn, ehrlich gesagt, die Mischung aus Furcht und Nähe übermannt mich noch immer, sobald seine hagere zigarrenbewehrte Figur vor meinem inneren Auge auftaucht. Dabei war er der pfiffigste von allen.
Manchmal denke ich, die Nation, das ist die Familie, nach außen gekehrt. Alles, was in der Familie hinuntergeschluckt, unter den Teppich gekehrt, übergangen und begütigend fortgeschwatzt wird, das bricht mit Urgewalt heraus, sobald die Kräfte der Nation wirksam werden. Bedrohliche Nähe – mehr braucht es nicht, um den Kessel von Zeit zu Zeit explodieren zu lassen: den Kessel, in dem alle miteinander geworden sind, was sie sind, nur dass ihre Zahl die der Familienmitglieder so abgründig übersteigt, dass jede Nähe falsch und die gefühlte Bedrohung stets anonym bleibt. Deshalb weiß man auch nicht, wer die Unruhestifter sind und wem die Rollen nur zugeschoben werden, damit sich die anderen nicht in die Karten schauen lassen müssen. Denn sicher ist: im Zentrum des Tumults wird gespielt – mit hohen Einsätzen, müssen wir annehmen, alles andere wäre lächerlich. Und lächerlich sind immer die anderen.